Lesetagebuch: Ilium von Dan Simmons

Der SF-Roman Ilium ist im Jahr 2004 erstmals auf deutsch erschienen. Wenig später legte Dan Simmons den zweiten Band Olympos nach. Hier geht’s jedoch nur um Band eins, den ich kürzlich ausgelesen habe.

Startschwierigkeiten

Das Buch stand nun schon mindestens zwei Jahre – wenn nicht länger – ungelesen in meinem Regal. Obwohl ich auf den Autor sehr große Stücke halte und mir das Buch von vertrauenswürdiger Seite wärmstens ans Herz gelegt wurde, konnte ich mich lange Zeit nicht überwinden, nach dem Werk zu greifen. Als ich mich Ende letzten Jahres endlich dazu durchrang, kam ich wiederum nicht so recht mit dem Lesen in die Gänge. Im Nachhinein kann ich mir dieses Zögern gar nicht erklären. Denn nachdem ich wochenlang immer nur ein paar Zeilen gelesen und das Buch dann für andere Druckerzeugnisse wieder beiseite gelegt hatte, packte es mich schließlich doch. In einem Rutsch las ich den 800-Seiter durch. Und das – soviel sei schon mal vorweggenommen – mit großem Genuss.

Der Autor – bekannt und beliebt vom Hyperion-Zyklus

Ich kannte Dan Simmons bislang nur als Autor seiner vier Hyperion-Romane. Vor allem die ersten beiden davon sind großartig und jedem SF-Fan dringendst zu empfehlen. Simmons‘ Einfälle darin sind klasse und das dargestellte Zukunftsszenario ist so schlüssig und detailliert, dass danach eigentlich kein SF-Roman mehr geschrieben werden muss. Entsprechend waren die beiden Endymion-Bände auch nicht mehr zwingend notwendig. Auch hier sind viele sehr schöne Einfälle zu finden und es wird auch einiges erklärt, was nach den ersten beiden Romanen noch offen war – aber vermisst hat man diese Erklärungen eigentlich nicht.

Als eingefleischter Atheist muss ich noch hinzufügen: Dass die gesamte Story eine sehr religiös anmutende Thematik behandelt, stört dabei überhaupt nicht, da alles auf ein einfallsreiches (pseudo-)wissenschaftliches Fundament gestellt wird.

Ilium – die Handlung

Der Titel ist Programm. Ilium – sprich: Troja – ist Handlungsort der zentralen Handlungsebene des Romans. Leserin und Leser werden mitten in die legendäre Schlacht geworfen, wie sie bei Homer beschrieben wird – und mit ihnen ein amerikanischer Professor namens Hockenberry aus dem frühen 21. Jahrhundert, der im Auftrag der Götter die Schlacht beobachtet, um zu dokumentieren, inwieweit sich die Ereignisse an den Verlauf der Ilias halten.

Was genau dahinter steckt, weiß auch der Protagonist Hockenberry nur oberflächlich. Nun, die Götter zumindest scheinen nicht unbedingt das zu sein, was sie vorgeben. Alles was sie tun basiert recht offensichtlich auf einer weit entwickelten Hochtechnologie. Somit haben Hockenberry und seine Leidensgenossen (er ist nicht der einzige Beobachter) den begründeten Verdacht, sich vielmehr in einer weit entfernten Zukunft zu befinden, in der sie aus Genom-Resten und irgendwie rekonstruierten Erinnerungen von den Toten wiedererweckt wurden, um den Göttern (die wohl eher hochentwickelte Nachkommen der Menschen sind) zu dienen. Viel mehr wissen sie nicht – und es sagt ihnen auch niemand mehr.

Jedenfalls folgt die Handlung (zunächst) ziemlich genau jener der Ilias – bis sich Hockenberry genötigt sieht, ein wenig Schicksal zu spielen. Hinzu kommen zwei weitere Handlungsebenen, die ganz offensichtlich in einer mindestens 2.000 Jahre entfernten Zukunft spielen.

Zunächst die Erde, auf der die Ereignisse um die letzten “Altmenschen” geschildert werden, die in klassischer Eloi-Manier ein sorgenfreies aber langweiliges und dumpfes Leben führen – bis einer auf die Idee kommt, lesen zu lernen – und sich auf die Suche nach einem Raumschiff zu begeben.

Und schließlich die Moravecs – intelligente Kunstwesen, die einst von den Menschen ins Sonnensystem entlassen wurden und nun eine eigenständige Kultur (unter anderem) auf den Jupitermonden bilden. Diese entsenden eine Expedition zum überraschend terraformten Mars, um nachzuschauen, was die “Nachmenschen” dort für einen gefährlichen Unsinn mit Quantensingularitäten treiben. Nebenbei präsentieren sich die beiden Hauptfiguren der Moravecs als große Literaturfans – einer schwärmt für Shakespeare, der andere für Proust. Die zahlreichen Ilias-Anspielungen und Zitate werden hier durch solche auf die beiden genannten Dichter ergänzt.

Zwei der drei Handlungsebenen finden gegen Ende zusammen – und allesamt münden sie in Ereignisse, die nicht weniger als das weitere Schicksal aller Intelligenzwesen im Sonnensystem besiegeln werden.

Kommentar – geniale Grundidee, solide Ausführung

Die Darstellung der Ilias ist großartig und das eigentliche Kernstück dieses Romans. Hervorragend auch die Umdeutung der Götter und ihrer Kräfte in futuristische Hightech. Allein das macht das Buch unbedingt lesens- und empfehlenswert.

Soweit ich das beurteilen kann, hält sich Simmons zunächst sogar sehr eng an die Ilias, was mir besondere Freude bereitet hat. Als Beispiel für ein Eingreifen der Götter möchte ich nur kurz die Stärkung des Diomedes durch Athene anführen, der daraufhin Aeneas und sogar die Göttin Aphrodite verwundet. Diese Szene wird in bester SF-Manier mit dem Einsatz von Zeitmanipulation (Athene hält kurz die Zeit an), Nanomaschinchen, deren Injektion Diomedes zu einem fast gottgleichen Kämpfer aufmotzen und Schutzschilden, die Götter und Helden schützen, beschrieben. Großartig!

So lange sie sich dermaßen dicht an die Ilias hält – was sie lange tut –, ist diese Handlungsebene grandios und macht unheimlich viel Spaß. Sobald der Punkt erreicht ist, an dem Simmons die Handlung bewusst durch Hockenberrys Wirken abweichen lässt, verliert sich dieser Reiz ein wenig – wobei diese Abweichung durchaus auch ihre Momente und großartigen Szenen hat.

Nebenbei bemerkt ist mir aufgefallen, dass ich beim Lesen doch oft den Troja-Film von Wolfgang Petersen vor Augen hatte. So wenig der mir alles in allem gefallen hat, hat seine Optik doch bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Aber ich schweife ab.

Die Moravec-Handlung ist streckenweise großartige, technisch kompetente SF. Die literarischen Anspielungen sind nett und machen Laune, mal wieder in den ollen Shakespeare reinzulesen.

Die Handlung auf der Erde schließlich wirkt etwas losgelöst und scheint vor allem den Zweck zu haben zu erläutern, wie sich das geschilderte Zukunftsszenario in der Form hat entwickeln können. Auch hier sind viele schöne fantastische Ideen verwirklicht (das trockengelegte Mittelmeer a la Antlantropa, um nur eine zu nennen). Und auch wenn ich sie durchaus spannend fand, war sie für mich doch die schwächste der drei Handlungsebenen.

Im gesamten Buch bedient sich Simmons übrigens eines Tricks, um dem Leser die meisten Hintergrundinformationen (künstlich) vorzuenthalten. Alle Protagonisten haben aus unterschiedlichen Gründen von nichts eine Ahnung. In der Form fand ich das noch ok – auch wenn es manchmal ein bisschen sehr konstruiert war. Für meinen Geschmack blieb das aber immer noch gerade an der Grenze.

Das Zukunftsszenario, das sich so vor dem Leser schließlich entfaltet, ist sehr interessant. Es kommt an das von Hyperion nicht heran – bleibt aber reizvoll. Auch, weil es sich um eine deutlich weiter entfernte Zukunft handelt, die naturgemäß viel fremdartiger und absurder erscheinen muss – was Simmons auch oft gelingt.

Ein wiederkehrendes Motiv aus Hyperion ist die Vorstellung eines Kollektivbewusstseins, das sich aus der Menschheit und/oder ihrer Kultur entwickelt – Core, Maschinen- und Teilhardscher Menschengott lassen grüßen. Bei Ilium ist dann von der Logosphäre und der beseelten Biosphäre die Rede – die Grundidee ist dieselbe, die Umsetzung etwas schwächer.

Fazit – Leseempfehlung

Bei aller angedeuteter Kritik ist das Buch unbedingt empfehlenswert. Ich halte Dan Simmons für einen der besten aktuellen SF-Autoren, was er mit diesem Buch erneut unter Beweis stellt. Seine technischen und sonstigen Visionen sind grandios und gut durchdacht. Er schreibt spannend und fesselnd. Seine Begeisterung für Literatur ist unaufdringlich in die Geschichte eingeflochten. Hier hat Simmons fast noch besser recherchiert als bei seinen technischen Visionen.

Entsprechend grandios – ich kann es nur wiederholen – seine Umsetzung der Ilias. Jeder Freund klassischer Mythen, der sich ein wenig für SF begeistert, muss dieses Buch unbedingt gelesen haben.

Man muss meines Erachtens auch nicht davor zurückschrecken, hier gleich wieder in einen Mehrteiler einzusteigen. Trotz aller offenen Enden, die Ilium hinterlässt, kann der Roman durchaus für sich allein stehen bleiben. Sicher werde ich Olympos irgendwann einmal lesen – aber das kann durchaus noch eine ganze Weile warten.

EDIT: Sechs Jahre später habe ich schließlich den zweiten Band Olympos gelesen und rezensiert.

Kategorien: Lesetagebuch

1 Kommentar

  1. Na, ob diese Buchrezension eine so gute Idee war? Ich überlege schon seit Tagen, ob ich mir das Buch zulege, und Du bist Schuld.

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